Ein weitverbreiteter Irrtum rund um die Gewaltfreie Kommunikation (GFK) ist die Annahme, sie sei eine Methode, um Konflikte zu vermeiden oder „wegzureden“. Doch genau das Gegenteil ist der Fall:
GFK lädt dazu ein, Konflikte mutig und ehrlich anzusprechen.
Konflikte entstehen nicht durch unterschiedliche Bedürfnisse – denn diese sind bei allen Menschen gleichwertig und verbinden uns. Konflikte entstehen immer auf der Ebene der Strategien, also bei den Mitteln und Wegen, die wir wählen, um unsere Bedürfnisse zu erfüllen. Sobald sich diese Strategien gegenseitig ausschließen oder behindern, entsteht Spannung.
Warum dieser Mythos entsteht:
Viele Menschen haben gelernt, Harmonie um jeden Preis anzustreben. „Nicht streiten, sei lieb, sag lieber nichts“ – solche Glaubenssätze führen dazu, unangenehme Themen zu meiden. Da die GFK wertschätzend und empathisch klingt, wird sie oft fälschlicherweise mit konfliktscheu verwechselt.
Doch Empathie bedeutet nicht, unangenehmen Wahrheiten aus dem Weg zu gehen. Im Gegenteil: GFK ermutigt dazu, innere Klarheit zu finden und sie aufrichtig auszudrücken – ohne Schuldzuweisung, aber mit voller Verantwortung.
Wie GFK Konflikte wirklich nutzt:
Die vier Schritte der GFK (Beobachtung, Gefühl, Bedürfnis, Bitte) schaffen einen klaren Rahmen, um selbst schwierige Themen beziehungsorientiert anzusprechen:
- Beobachtung: „Ich habe gesehen, dass du gestern beim Meeting früh gegangen bist …“
- Gefühl: „… das hat mich irritiert und traurig gemacht,“
- Bedürfnis: „… weil mir Zusammenarbeit und Rücksicht wichtig sind.“
- Bitte: „Kannst du mir sagen, was los war oder wie du das erlebt hast?“
So wird der Konflikt nicht umgangen, sondern genutzt – für echte Verbindung.
GFK in der Mediation:
In der Phase der Konflikterhellung (siehe 5-Phasen-Modell der Mediation) geht es genau darum: Bedürfnisse sichtbar machen, statt um Recht oder Schuld zu streiten. Wenn das gelingt, entsteht Raum für neue, tragfähige Lösungen.
Fazit: GFK ist keine Technik zur Vermeidung von Konflikten – sie ist eine Einladung, sie mit offenem Herzen und klarem Blick anzusprechen. Denn hinter jedem Konflikt steckt ein unerfülltes Bedürfnis – und die Chance, sich selbst und andere besser zu verstehen.
GFK-Mythos #3: Die Gewaltfreie Kommunikation manipuliert andere
Dieser Mythos hält sich hartnäckig: Manche glauben, GFK sei eine Technik, mit der man andere Menschen geschickt beeinflussen oder dazu bringen kann, das zu tun, was man selbst will.
Doch GFK ist keine Manipulationstechnik, sondern eine Haltung.
Sie lebt von der Freiwilligkeit, vom Kontakt auf Augenhöhe und davon, Verantwortung für die eigenen Bedürfnisse zu übernehmen, ohne andere zu kontrollieren oder zu überreden.
Warum dieser Mythos entsteht:
GFK klingt oft sehr klar, strukturiert und sogar freundlich. Wer nur die Worte übernimmt, aber nicht die Haltung lebt, könnte tatsächlich manipulativ wirken: „Ich habe ein Bedürfnis nach Ordnung, kannst du bitte die Küche aufräumen?“ – Wenn dann Druck, Bewertung oder Vorwurf mitschwingen, wird eine Bitte schnell zur versteckten Forderung.
Die Unterscheidung: Bitte oder Forderung?
Ein Schlüsselkonzept in der GFK ist: Wie reagiere ich auf ein Nein?
Wenn ich verletzt, beleidigt oder wütend reagiere, war es wahrscheinlich keine echte Bitte, sondern eine getarnte Forderung.
Marshall Rosenberg sagt dazu im Rollenspiel „Liebst du mich?“: Wenn jemand das tut, was ich will, aber aus Angst vor Schuld, Ablehnung oder Strafe, dann ist das keine Verbindung. Dann entsteht kein Geben von Herzen, sondern Abhängigkeit.
Fazit:
GFK kann wie Manipulation wirken, wenn die Haltung fehlt.
Aber echte GFK bedeutet, mit anderen in einen freiwilligen, wahren Kontakt zu gehen – ohne Tricks, ohne Taktik, sondern mit dem Wunsch, sich gegenseitig zu verstehen und zu bereichern.
GFK-Mythos #4: Wenn ich nach den 4 Schritten spreche, mache ich alles richtig.
Dieser Mythos ist besonders tückisch, weil er sich auf die Form statt auf die Haltung konzentriert. Es klingt ja fast logisch: Wenn ich Beobachtung, Gefühl, Bedürfnis und Bitte sauber benenne, bin ich auf dem richtigen Weg – oder?
Nicht ganz. Denn die GFK ist keine Formel, sondern ein Weg, in Verbindung zu kommen.
Warum dieser Mythos problematisch ist:
Die vier Schritte sind hilfreiche Werkzeuge, um Klarheit zu schaffen – sowohl im Innen wie im Außen. Aber wenn sie mechanisch oder technisch verwendet werden, entsteht oft eher Distanz als Verbindung. Das Gegenüber spürt: „Ich werde durch ein Schema gesprochen.“
Marshall Rosenberg betont deshalb: „Sprich nicht wie ein Giraffen-Roboter.“
Die Absicht hinter deinen Worten zählt. Geht es dir um Verbindung oder um Rechthaben? Um Kontakt oder Kontrolle?
Was wirklich zählt:
- Deine Empathiefähigkeit – bist du bereit, den anderen wirklich zu hören?
- Deine Selbstverantwortung – übernimmst du Verantwortung für deine Gefühle?
- Deine Haltung – siehst du im Gegenüber einen Menschen mit Bedürfnissen?
Rosenbergs Merksatz dazu: „Empathie ist nicht, was du sagst, sondern wie du da bist.“
Fazit:
Die 4 Schritte sind das Geländer, nicht der Weg. Sie helfen dir, dich auszurichten, aber sie sind kein Selbstzweck. Wirkliche Verbindung entsteht dann, wenn du dich verletzlich und echt zeigst und offen bist für das, was beim anderen lebendig ist.